Im vergangenen Jahr stellte die Polizei insgesamt 1.453 antisemitische Delikte fest. Das ist ungefähr so viel wie 2016 und mehr als 2015. "Die Dunkelziffer dürfte beträchtlich höher sein", sagt Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Mit der Flüchtlingswelle haben die Übergriffe zugenommen. Juden in Deutschland werden offenbar auch stellvertretend für den Staat Israel angegriffen. Aber muslimischer Antisemitismus sei nur eine Facette. Nach wie vor dürften judenfeindliche Strömungen unter Rechtsextremen oder in der gesellschaftlichen Mitte nicht verharmlost werden, so ein aktueller Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus der Bundesregierung. In der Bevölkerung insgesamt gehen die Experten von etwa zwanzig Prozent „latentem Antisemitismus“ aus.
Die Folge: jüdisches Leben zieht sich in geschützte Räume zurück. Nur nicht anecken, nur nicht auffallen, ein Leben in Angst. Man macht sich unsichtbar, soweit es geht. Aber das geht nicht immer. Immer wieder gibt es Juden in Deutschland, die nicht mehr schweigen, sondern über ihren schwierigen Alltag sprechen. Etwa 100.000 Juden leben heute als deutsche Staatsbürger in der Bundesrepublik. Die meisten sind in den neunziger Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert. Hinzu kommen etwa 13.000 Israelis, die dauerhaft in Deutschland leben.
In Chemnitz führt Uwe Dziuballa mit Mutter und Bruder das Restaurant Schalom. Sie brauen das einzige koschere Pils Deutschlands und sind so etwas wie eine Schaltzentrale jüdischen Lebens. Anfeindungen durch die rechte Szene in der Stadt prägen die Geschichte des Lokals. Meistens zeigt die Familie sie nicht einmal mehr an: es bringt ja doch nichts.
Alon Meyer ist ehemaliger Fußballtrainer und Präsident des jüdischen Sportvereins Makkabi in Frankfurt. Seine Spieler tragen den Davidstern auf den Vereinsjacken. Sie können sich nicht verstecken. Regelmäßig kommt es zu antisemitischen Auseinandersetzungen mit den gegnerischen Mannschaften auf dem Spielfeld, zu Beleidigungen, Bedrohungen oder handfesten Übergriffen. Die jüdische Schule seiner Kinder gleicht einem Hochsicherheitstrakt: Es gibt Kontrollen am Eingang, in der Schule patrouillieren bewaffnete Sicherheitskräfte und mehrmals im Jahr stehen Notfallübungen auf dem Stundenplan. Der Rabbiner Zalman Gurevitch von der Westend-Synagoge wurde auf der Straße mit einem Messer attackiert, lebensgefährlich verletzt. Bis heute hat er sich davon nicht erholt.
Lösungsansätze sucht die Salaam-Schalom Initiative in Berlin, gegründet vom ehemaligen Rabbiner-Studenten Armin Langer. Immer zu Zweit – ein Jude, ein Moslem – gehen zusammen an die Brennpunkte antisemitischer Erfahrungen, etwa in Schulen und leisten dort Konfliktmanagement und Aufklärungsarbeit: "Wir müssen klarmachen, dass Muslime und Juden keine Feinde sind und dass wir den Konflikt aus dem Nahen Osten nicht hierher importieren wollen." Regelmäßig unternimmt er eine Fahrt mit auffällig gewordenen Jugendlichen ins ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen.